TAMING OF THE DEMONS

Project of the Summer Academy Venice 2020

Walter, Harry

Stereoskopische Hände

Stereoskopische Hande Harry Walter

Bilder lassen vom Raum in der Regel nur
zwei Dimensionen übrig. Um die dritte
Dimension dennoch erfahrbar zu machen,
musste man sich etwas einfallen lassen.
Ein Stereoskop ist ein Gerät, durch das
sich zwei Bilder, die aus zwei dem Augenabstand
entsprechenden Winkeln aufgenommen
wurden, zu einem einzigen, als
räumlich empfundenen Bild vereinen lassen.

Die Idee ist so einfach und der Effekt
so verblüffend, dass man sich fragt, warum
sich die Fotografie nicht gänzlich dieser
Richtung verschrieben hat, wiewohl
andererseits klar ist, dass Fotos nicht dazu
da sind, Illusionen hervorzubringen, sondern
die Wirklichkeit abzubilden.

Was hier wie eine Geisterbeschwörung
aussieht, erklärt sich zunächst einmal als
der Versuch, die Illusion eines dreidimensionalen
Raums bis zum Maximum auszuschöpfen.
Betrachtet man die Szene
durch ein Stereoskop, scheint die rechte
Hand der jungen Frau auf verblüffende
Weise aus dem Bildraum heraus in Richtung
Betrachter zu greifen. Während die
linke Hand an der Grenze zum eigentlichen
Bildraum zu verharren scheint, hat
sich die rechte weit ins Bildjenseits vorgewagt
und den normalerweise toten Raum
zwischen dem Bild und seinen Betrachtern
durch Handstreich in Besitz genommen.

Dieses ins Spiritistische hinüberreichende
Spiel mit der Fernwirkungskraft
von Händen hat hier zu einer ironischen
Formulierung gefunden. Was das vermutlich
um 1900 aufgenommene Bilderpaar
vom Genre der okkultistischen Geisterfotografien
unterscheidet, ist die Tatsache,
dass die Hände direkt auf uns gerichtet
sind und uns damit nicht nur zu Betrachtern,
sondern selbst zu Manipulierten machen.

Kopf und Hände der jungen Frau wirken
echt und künstlich zugleich, als handle
es sich um ein Objekt aus einem Wachsfi-
gurenkabinett, wo Berühmtheiten aller
Art so naturgetreu wie möglich in einer
für sie charakteristischen Pose verewigt
sind und bei ihren Betrachtern das Gefühl
einer leibhaftigen Begegnung mit der
Weltgeschichte hervorkitzeln sollen.

Der Grund für diese wächserne Starre
ist zu einem gewissen Teil technisch
bedingt: In jener Zeit, der das Fotopaar
entstammt, waren für eine scharfe und
ausreichend belichtete Aufnahme relativ
lange Belichtungszeiten vonnöten, so
dass die Körper, insbesondere die Köpfe,
mittels Stützapparaturen in eine künstliche
Starre versetzt werden mussten. Das
Sich-Einfrieren-Müssen während des Aufnahmezeitraums
führte zu einer Überstilisierung
der Physiognomie, zu einer neuartigen
Form der Gesichtstheatralik, zu
Köpfen, die uns heute oft wie Karikaturen
auf den Begriff Charakter anmuten.

Durch die Stereoskopie ist dieser Erstarrungseffekt
natürlich noch verstärkt
worden. So wie sich bei einer Glasvitrine
das Berührverbot letztendlich als
Sehzwang manifestiert, so wird man
auch hier dazu verleitet, das zum Greifen
Nahe tiefer in den Blick zu nehmen,
als es der Anstand gebieten würde. Längeres
Hinein schauen in einen stereoskopisch
illusionierten Raum kann zu einem
Tunnelblick führen oder gar zu einer hypnotischen
Blickstarre, die in dem hier gebotenen
Fall allerdings vom Bild selbst
auszugehen scheint.

Zwischen den beiden Armen ist auf
Brusthöhe etwas Fellartiges zu erkennen,
das zu einem Hund gehören könnte,
der sich auf dem Schoß der Frau niedergelassen
hat und nun als Unterlage für
den linken Unterarm dient. Der rechte
wird hingegen von einem damals in Fotostudios
gebräuchlichen Fixierstab gehalten
– das auf dem Stativ sitzende Gelenk
samt Flügelschraube ist deutlich erkennbar.
Möglicherweise war der Fotograf so
sehr auf eine stabile Positionierung der
Arme konzentriert, dass er diese kleine
Unsauberkeit im Bildaufbau gar nicht bemerkte.

Denn jedes Zittern der Hände hätte
sich auf dem Foto als Unschärfe manifestiert
und die Illusion eines in der Zeit eingefrorenen
Raumbilds zerstört, weshalb
es wiederum unwahrscheinlich ist, dass
sich ein lebendiger Hund in diese Szene
verirrt haben könnte, zumal dessen Größe
weit über die eines Schoßhündchens
hinausgereicht hätte. Vielleicht diente ein
über die Stuhllehne gehängtes Fell hier lediglich
dazu, der kranzartig gewickelten
Frisur und der weißen Halsschleife etwas
eindeutig Wildes entgegenzusetzen. Was
da als Armstütze dient, könnte aber auch
der Rücken eines ausgestopften Tiers
sein, nicht notwendig eines Hundes, sondern
vielleicht eines Löwen, dessen plattgedrückte
Mähne das Resultat unzähliger
Streicheleinheiten wäre. Das oben rechts
im Bild zu sehende schwarze Flächenstück
deutet auf eine abgeschrägte Studiokulisse
hin, falls es sich nicht um einen
ins Bild hineinragenden Vorhang handelt.

Betrachtet man die beiden auf eine Pappe
geklebten Aufnahmen ohne passendes
Betrachtergerät, wirken sie in ihrem funktionslosen
Nebeneinander wie eine Aufforderung
zum Dauervergleich. Und lässt
man die Augen zwischen den beiden Fotos

hin und her pendeln, gerät die rechte
Hand der Frau auffällig ins Springen,
da sie der Kameralinse am nächsten war
und deshalb relativ zum Hintergrund den
größten Versatz aufweist. Der Kopf auf
dem linken Foto ist von der vorgestreckten
Hand teilweise verdeckt, wohingegen
auf dem rechten Foto zwischen Kopf und
Hand ein Tapetenstück sichtbar wird, das
zu der Wand im Hintergrund gehört.

Die leicht unterschiedliche Perspektive
auf dasselbe Motiv bewirkt eine unterschiedliche
Nuancierung der gestischmimischen
Botschaft: Während das linke
Foto aufgrund des leicht aus der Bildmitte
versetzten Kopfes insgesamt etwas dynamischer
und handlungsbetonter wirkt,
ist auf dem rechten Foto der Kopf so vollkommen
ins Zentrum geraten, dass er ein
Höchstmaß an Souveränität oder Gelassenheit
ausstrahlt.

Schon eine minimale Verschiebung des
Blickwinkels kann den Ausdruckswert
einer Szene offenbar in eine ganz andere
Richtung lenken. Obwohl es sich um
ein und denselben Moment handelt, der
hier festgehalten wurde, entsteht der Eindruck
eines filmischen Nacheinanders, in
dem die Frau von einer eher abwehrenden
zu einer eher beschwörenden Haltung findet
und so die Magie der Hände eine gewisse
Abrundung oder Entfaltung erfährt.

Beim Zusammenkommen der beiden
Aufnahmen im Stereoskop überlagern sich
die beiden differenten Aspekte auf komplexe
Weise, und es entsteht neben dem
Raumeindruck so etwas wie das Stereogramm
eines von zwei auseinanderlaufenden
Gefühlen zusammengehaltenen
Augenblicks.

 

Dozent der Meisterklasse Creative Writing, 2019/2021